Wissenschaftlichkeit der Medizin
Medizin dient der Gesundheitsversorgung.
Aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben in der Gesundheitsversorgung können „Wissenschaft“ und „Wissenschaftlichkeit“ in der Medizin nicht einheitlich definiert werden.
Der studierte Mediziner, Psychologe, Mathematiker und Professor am Institut für Umwelthygiene des Zentrums für Public Health der Medizinischen Universität Wien Michael Kundi nannte vier Hauptaufgaben für die Wissenschaft in der Medizin:1,2
Beschreiben: Eindeutige Beschreibung beobachteter Phänomene
Erklären: Erklärung der Phänomene anhand medizinischer Gesetzmäßigkeiten
Vorhersagen: Prognose des Krankheits- und Behandlungsverlaufes
Beeinflussen: Behandlung oder Prävention
Wissenschaftliche Methoden
Der Begriff „wissenschaftlich“ bezieht sich in der Medizin auf diagnostische und ärztlich-therapeutische Bereiche, Wirksamkeitsnachweise durch Studien sowie wissenschaftliche Erklärungen. Deshalb verwendet die Medizin völlig unterschiedliche wissenschaftliche Methoden, wie der deutsche Facharzt für Allgemeinmedizin Matthias Wischner deutlich machte:3
- Die Methode des praktisch tätigen Arztes:
Anamnese, Untersuchung, Diagnose, Therapie, Prognose, Dokumentation. - Die Art und Weise des medizinischen Erkenntnisgewinns:
Untersuchungsmethoden, biochemische und immunologische Laborwerte, messtechnische und bildgebende Verfahren, Mikroskopie, Mikrobiologie, Patiententagebücher, Fragebögen, Studien. - Der Wirksamkeitsnachweis nach wissenschaftlichen Regeln:
Evidenzbasierte Medizin. - Die wissenschaftliche Erklärung eines Sachverhaltes:
Allgemeinmedizinische oder fachärztliche Erklärungen medizinischer Zusammenhänge mit Berücksichtigung aller verfügbaren Daten.
Gemeinsam ist wissenschaftlichen Methoden, dass alle Handlungen rational begründet sein müssen:1
„Die wissenschaftliche Methode. Diese Methode errang in der Medizin erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts umfassende Bedeutung. Sie besteht darin, dass alle Handlungen rational begründet werden müssen. Auch die Lücken der Erkenntnis müssen bewusst sein, weil im Allgemeinen Handeln immer unter nicht vollständig bekannten und klaren Voraussetzungen erfolgt. Auch wenn dann die Entscheidung auf ein Nicht-Handeln fällt, ist dieses dann wohlbegründet und nicht eine grundsätzliche Handlungskarenz wie bei der nihilistischen Methode.“
Wissenschaftliche Medizin
Der Lehrstuhlinhaber für Allgemeinmedizin und Familienmedizin an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke Professor Andreas Sönnichsen erklärte auf einer Veranstaltung des österreichischen Gesundheitsministeriums, was „wissenschaftliche Medizin“ in der therapeutischen Praxis bedeutet:4
„Wissenschaftliche Medizin betreiben heißt, dem Patienten die Behandlung zukommen zu lassen, mit der nach derzeitigem Kenntnisstand eine höhere Chance auf Heilung oder Linderung besteht als ohne diese“.
Professor Sönnichsen folgerte daraus, dass „wissenschaftliche“ Medizin „evidenzbasierte“ Medizin ist. Das heißt, Ärzte und Therapeuten handeln dann wissenschaftlich, wenn sie auf Grundlage der verfügbaren Evidenz (Studien und andere Daten) und ihrer klinischen Erfahrung für einen bestimmten Patienten mit seinen individuellen Beschwerden, Wünschen und Umständen (Alter, Begleitkrankheiten) einen Behandlungsvorschlag machen, der zu einem Therapieerfolg führt.
Diskurs
Professor Kundi wies auf die Bedeutung von Kritik und Erfahrung für die Wissenschaft hin:1
„Wissenschaft verlangt Kritik, ist widerlegbar, verwirft Annahmen, wenn sie mit der Erfahrung nicht im Einklang stehen, ist kooperativ und egalitär, ist hypothetisch.“
Die Wissenschaft braucht Kritik, um zu prüfen, ob Hypothesen (Annahmen) widerlegbar sind. Wissenschaftliche Hypothesen sind aber auch dann zu verwerfen, wenn sie nicht durch die „Erfahrung“ bestätigt werden. Wissenschaft sollte auf soziale Gleichheit ausgerichtet (egalitär) und nicht durch persönliche Interessen oder Machtansprüche bestimmt sein. Wissenschaftler sollen kooperativ und sich der hypothetischen, d.h. unbewiesenen Natur der Wissenschaft bewusst sein.
Die Auseinandersetzung mit Kritik ist ein Kennzeichen der Wissenschaft:5
„Wissenschaft ist diskursiv:
Ohne kritische Auseinandersetzung kann es keine Wissenschaft geben.
Die Kritik ist ein wesentliches Element der Wissenschaft.“
Das wird erreicht durch Veröffentlichung wissenschaftlicher Neuerungen in peer-reviewed-Journals. „Peer review“ bedeutet, dass die Publikation von gleichrangigen (engl. peer) Fachkollegen kritisch geprüft wird. „Gleichrangig“ bedeutet, dass die prüfenden Wissenschaftler den gleichen fachlichen Rang haben, um die wissenschaftliche Arbeit beurteilen zu können. Nach dem Erscheinen der Veröffentlichungen ist eine kritische Auseinandersetzung über strittige Punkte durch einen in der Fachzeitschrift publizierten „Letter to the Editor” oder in direktem Diskurs mit dem Autor möglich. Diskussionen gibt es auch auf wissenschaftlichen Fachtagungen.
Wissenschaftlichkeit
In der Gesundheitsversorgung gibt es unterschiedliche Aufgaben.
Die Wissenschaftlichkeit hängt von der Patientensituation und dem verfügbaren Aufwand ab. Das wissenschaftliche Handeln reicht von der therapeutischen Begegnung mit einem Patienten in der allgemeinmedizinischen oder tierärztlichen Praxis mit geringem Aufwand bis zu hochspezialisierten Behandlungen auf Intensivstationen und in Operationssälen.
Praxisbedingungen
Der überwiegende Teil der medizinischen Versorgung findet unter Praxisbedingungen statt. Ärztliches Gespräch, Untersuchung, Beschreibung und Dokumentation der beobachteten Phänomene, Zuordnung zu einer Diagnose oder Symptomgruppen, Syndromen oder anderen medizinischen Gesetzmäßigkeiten und ein darauf aufbauender Therapievorschlag sind für den Großteil der Patienten zielführend.
Hochspezialisierte Medizin
Die Intensivmedizin und Anästhesiologie sowie Abteilungen der Chirurgie, Neurochirurgie, Transplantationschirurgie, Kardiologie, Onkologie, Infektiologie, In-vitro-Fertilisation und andere klinische Fachgebiete behandeln schwierige und akut lebensbedrohliche klinische Situationen. Diese Medizin ist forschungsorientiert und erfordert hohe Qualitätsstandards und einen großen personellen, wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Aufwand.
Fazit
In der Medizin hängt „Wissenschaftlichkeit“ von der Patientensituation und dem verfügbaren Aufwand ab.
- Wissenschaftliche Medizin in der therapeutischen Praxis bedeutet evidenzbasierte Medizin.
- Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Kritik ist ein Kennzeichen der Wissenschaft.
- Erfahrung ist wichtig, um evidenzbasierte Medizin zu betreiben und wissenschaftliche Hypothesen zu prüfen.
Literatur
- Kundi 2016
- Horn, Buchberger 2016
- Wischner 2010
- Sönnichsen 2009
- Kundi 2009
PDF mit Literaturangaben |
Startversion: 5.8.2017
Autor: Friedrich Dellmour