Egger-Studie 2005
Die berühmteste medizinische Fachzeitschrift der Welt The Lancet veröffentlichte 2005 die Aufsehen erregende Metaanalyse einer Autorengruppe um Aijing Shang unter dem hauptverantwortlichen Autor Matthias Egger:1
Sind die klinischen Wirkungen der Homöopathie Placebowirkungen?
Vergleichsstudie placebokontrollierter Studien der Homöopathie und Schulmedizin
Lancet. 2005 Aug 27-Sep 2;366(9487):726-32
Diese Arbeit hat sich als Wissenschaftsskandal herausgestellt.2
Die in der Metaanalyse gefundenen positiven Ergebnisse der Homöopathie wurden ins Gegenteil verkehrt, indem die 220 eingeschlossenen Studien nachträglich auf 14 Studien reduziert wurden, die obendrein nicht namentlich genannt wurden. Durch diesen Ausschluss von 94% der eingeschlossenen Studien fanden die Autoren die erwartete Annahme „bestätigt“, dass die klinischen Wirkungen der Homöopathie „Placebo-Effekte“ seien.
Eine Fülle von Leserbriefen und internationale Proteste zeigten, dass die Metaanalyse keine Relevanz für die Homöopathie hat. Aber die Veröffentlichung hatte ihre Ziele erreicht:
- Die klinischen Wirkungen der Homöopathie wurden als Placeboeffekte erklärt: „clinical effects of homoeopathy … are unspecific placebo or context effects.“
- Das Ergebnis wurde mit dem Fehlen eines anerkannten Wirkmechanismus begründet: „Specific effects of homoeopathic remedies seem implausible“.
Wie sich danach zeigte, wurde die Veröffentlichung in der Schweiz benutzt, um die Komplementärmedizin aus dem Grundversorgungskatalog der Krankenversicherung zu streichen. In England führte der in der Metaanalyse behauptete „Mangel an Evidenz“ dazu, dass in fünf homöopathischen Krankenhäusern die Finanzierung der homöopathischen Behandlung durch Primary Care Trusts (PCTs) des National Health Service (NHS) gestrichen wurde. Der Direktor des West Kent Primary Care Trusts, James Thallon begründete diese Entscheidung mit den für alle Gesundheitssysteme geltenden ökonomischen Kriterien:3
„But ultimately it is the clear duty of PCTs to make best use of public money by commissioning clinically cost effective care. There is not enough evidence of clinical effectiveness for us to continue to commission homeopathy.”
Profil 2005
Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs Profil berichtete auf der Titelseite:4
Homöopathie - Der große Bluff. Alle seriösen Studien beweisen die Wirkungslosigkeit der alternativen Therapie
In dem Profil-Bericht wurde das „Ende der Homöopathie“ ausgerufen und auf alternative Therapien ausgeweitet.
Hintergründe
Die Metaanalyse war keine Einzelarbeit.5
Die Egger-Studie war eine „kleinere quantitative Teilstudie“14 des von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebenen „Programms zur Evaluation der Komplementärmedizin (PEK)“, um den medizinischen Nutzen und die Sicherheit komplementärmedizinischer Methoden zu untersuchen. Das PEK-Programm hat in einem systematischen Review randomisierter Studien ausnahmslos positive Ergebnisse für die Homöopathie gefunden.
Der Schlussbericht der PEK-Kommission6 warnte vor den methodischen Problemen der Metaanalyse und alle Nachanalysen ergaben, dass die Metaanalyse aufgrund schwerer methodischer Fehler nicht verwertbar ist.7,8,9,10 Im Gegenteil, die beiden Nachanalysen von Lex Rutten und Rainer Lüdtke 2008 bestätigten die Mängel und fanden, dass die 21 in der Metaanalyse als „hochqualitativ“ bezeichneten Homöopathie-Studien signifikante Wirkungen über Placeboniveau zeigten.11,12,13
Health Technology Assessment
Der abschließende Health Technology Assessment (HTA) Bericht des PEK-Programms wurde von Gudrun Bornhöft und Peter F. Matthiessen 2006 veröffentlicht.14
Ein HTA ist die höchste Stufe der Evidence Based Medicine zur Beurteilung der Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten von Therapiemethoden. Ein HTA hat mehr Aussagekraft als einzelne Übersichtsarbeiten oder klinische Studien.
Damit wurde das bisher umfassendste Grundlagenwerk zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung der Homöopathie veröffentlicht. Die 13 Experten des HTA-Teams (Lehrstuhlinhaber, Fachärzte, Allgemeinmediziner, Homöopathen mit eigener Praxis und wissenschaftliche Mitarbeiter) fanden in einer Internetrecherche in 22 medizinischen Datenbanken 107 auswertbare Titel.
Diese bisher umfangreichste Untersuchung der Homöopathie fand in 22 medizinischen Datenbanken 107 auswertbare Artikel. 20 von 22 Reviews zeigten positive Ergebnisse (n=5) oder einen positiven Trend (n=15). 2 Arbeiten fanden keine Wirksamkeit. Bei Infekten und allergischen Reaktionen der oberen Atemwege zeigten 24 von 29 Studien an 4.843 Patienten positive Ergebnisse. Bei Beschränkung auf randomisierte placebokontrollierte Studien der höchsten Evidenzklasse (1b) belegten 12 von 16 Studien an 2.089 Patienten positive Ergebnisse.
Das auch heute gültige Gesamtergebnis des HTA-Berichtes 2006 lautet:14
„Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es ausreichende Belege für die präklinische (experimentelle) Wirkung und klinische Wirksamkeit der Homöopathie gibt und dass sie absolut und insbesondere im Vergleich zu konventionellen Therapien eine sichere und kostengünstige Intervention darstellt.“
Widerspruch
Wie kann der Widerspruch zwischen dem negativen Ergebnis der Metaanalyse und den positiven Ergebnissen des HTA erklärt werden?
Peter F. Matthiessen und Gudrun Bornhöft schreiben in der Einleitung:14
„Entstehung und weiterer Verlauf des Projekts spiegeln die Polaritäten und divergierenden Stimmungen wider, die zur Zeit in vielen Ländern gegenüber CAM zu finden sind - und werfen auch ein erhellendes Licht auf institutionelle Prozesse:
Beweggründe für PEK waren die hohe Nachfrage und die bereits bestehende breite Anwendung und Akzeptanz in der Bevölkerung, von politischer Seite gepaart mit der Hoffnung auf einen ökonomischen und präventiven Nutzen der komplementärmedizinischen Therapien. Auf der anderen Seite stand die häufig zu hörende Einschätzung der sog. Schulmedizin, dass komplementärmedizinische Therapien unwirksam oder sogar schädlich seien.“
Das Untersuchungsprogramm wurde durchgeführt, um „eine gesellschaftlich zufrieden stellende Entscheidung zu treffen, deren Begründung auch wissenschaftlichen Anforderungen genügt.“
Allerdings war ein positives Ergebnis in gesundheitspolitischen Kreisen nicht erwünscht. Das Mitglied des PEK-Lenkungsausschusses Peter Heusser hielt am 9. Dezember 2005 an der Universität Bern im der Ringvorlesung „Medizin und Macht“ die Vorlesung „Medizin und Macht am Beispiel der Programm Evaluation Komplementärmedizin PEK“.10,13 In dieser Vorlesung wurden die gesundheitspolitischen Hintergründe der Lancet-Studie aufgezeigt. Der Schweizer Bundesrat hatte beschlossen, die Komplementärmedizin aus dem Grundversorgungskatalog der Krankenversicherung zu streichen. Zuvor hatte das Schweizer Bundesamt für Gesundheit eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um den Stellenwert der Komplementärmedizin im Schweizer Krankenversicherungssystem zu evaluieren. Diese Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) hatte in einem systematischen Review ausnahmslos positive Ergebnisse für die Homöopathie gefunden! Die Schweizer Behörden waren darüber nicht erfreut. Der Vorbericht und die Empfehlung der Kommission, die Homöopathie in der Krankenversicherung zu belassen, wurden verworfen. Im Juni 2005 wurden die Komplementärmedizin und Homöopathie aus dem Grundversorgungskatalog der Krankenversicherung gestrichen.
Kritik
Die Metaanalyse wurde von der eigenen Kommission, ärztlichen Fachverbänden und den besten internationalen Experten kritisiert:
PEK-Kommission
Bereits der Schlussbericht der PEK-Kommission warnte vor den methodischen Problemen der Metaanalyse.6 Die Kommission bestätigte der Homöopathie stärkere Besserungsraten, geringere Nebenwirkungen, weniger Spitalsaufenthalte und dass die homöopathische Behandlung kostengünstiger als die konventionelle Behandlung sei. Die Metaanalyse wurde aufgrund des methodischen Zusammenwerfens verschiedener Studien als „eingeschränkt gültig“ und „problematisch“ bezeichnet. Der Schlussbericht machte deutlich, dass „die Schlussfolgerung der Metaanalyse im Gegensatz zu der des Bewertungsberichtes steht“ und die Ergebnisse „aufgrund grundlegender methodischer Probleme zurückhaltend interpretiert werden sollten.“
HTA-Bericht
Peter F. Matthiessen und Gudrun Bornhöft schreiben:14
„Noch vor Abschluss des Gesamtprojekts wurden bereits ohne Berücksichtigung des Kontexts die Ergebnisse der erwähnten kleineren quantitativen Teilstudie bekannt, die - entgegen der eigentlichen Intention eines HTA - lediglich experimentelle Studien (randomisierte Doppelblindstudien) in ihre Auswertung aufgenommen hatte.“
„Das „Negativergebnis“ für die Homöopathie sorgte sowohl vor Abschluss des PEK-Projekts als auch bei der anschließenden Veröffentlichung (Shang et al. 2005) für Furore und gipfelte schließlich in dem missglückten Titel des Lancet Editorials „The end of homeopathy“ (editorial 2005).
Gegenüber diesem für die eigentliche politische Entscheidung wenig relevanten Teilergebnis kamen die weitaus umfangreicheren und inhaltlich differenzierteren HTAs zu dem Schluss einer wirksamen, unter der Schweizer Bedingungen sicheren und soweit aus der Studienlage ersichtlich auch wirtschaftlich günstigen Anwendung der jeweiligen CAM-Interventionen, insbesondere auch der Homöopathie.
In der Gesamtbewertung (durch das PEK-Review-Komitee) wurden den HTAs zur Anthroposophischen Medizin, Homöopathie, Phytotherapie und TCM-Phytotherapie eine gute Qualität sowie nachvollziehbare Ergebnisse bescheinigt, deren Schlussfolgerungen wissenschaftlich haltbar sind.“
Kommentare
Die Kommentare zur Egger-Studie reichten von „Fascinating lesson on bias“ (David Reilly) bis „Verfall und Pervertierung biomedizinischer Statistik“ (Mikel Aickin). Der Schweizerische Verein Homöopathischer Ärztinnen und Ärzte (SVHA) veröffentlichte einen offenen Brief an den Herausgeber des Lancet, in dem er die geringe homöopathische Qualität der ausgewählten Studien und fehlende externe Validität und Praxisrelevanz der Metaanalyse beklagte.15 Kein einziger Homöopath würde auch nur einen Patienten nach den Kriterien der ausgewählten Studien behandeln. Die Ergebnisse stehen im Widerspruch zu den vorhandenen Metaanalysen und Reviews und sind wissenschaftlich unhaltbar. Die Lancet-Publikation war intransparent, unvollständig und hat gegen die internationalen Regeln der Cochrane Collaboration verstoßen.
Weitere ausgewählte Kommentare sind im Literaturverzeichnis aufgelistet.16-19
Die Hintergründe der Kontroverse und Details der in der Egger-Studie analysierten 14 Studien wurden 2008 zusammengefasst.13
Dieser Kommentar ist unten als PDF verfügbar.
SCHWEIZ:
Komplementärmedizin in die Grundversicherung aufgenommen
Seit 1. August 2017 ist die Komplementärmedizin Pflichtleistung der Krankenversicherung
Medienmitteilung vom 16. Juni 201720
„Das Schweizer Volk hat sich am 17. Mai 2009 mit einer Zweidrittelsmehrheit dafür ausgesprochen, dass Komplementärmedizin im Gesundheitswesen berücksichtigt werden muss. ... Anthroposophische Medizin, klassische Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin und Phytotherapie werden ab dem 1. August 2017 definitiv von der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Grundversicherung) übernommen. Voraussetzung ist, dass die Methoden von einem Schulmediziner praktiziert werden, der in einer der vier Methoden eine Zusatzausbildung abgeschlossen hat, die von der nationalen Ärzteorganisation FMH anerkannt ist.“
„Mit dem Entscheid anerkennt die Regierung, dass Komplementärmedizin in der Schweiz die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich Wirksamkeit, Gewährleistung hoher Qualität und Sicherheit erfüllt.“
„Dem Entscheid der Regierung war eine jahrelange Kontroverse über die Vergütung komplementärmedizinischer Leistungen vorausgegangen. Wissenschaftliche Programme, welche die Regierung in Auftrag gegeben hatte, wurden für politische Zwecke missbraucht. So wurden die Leistungen zeitweise nicht mehr vergütet.“
„Mit dem Entscheid anerkennt die Regierung, dass Komplementärmedizin die Vorgaben des Krankenversicherungsgesetzes hinsichtlich Wirksamkeit, Gewährleistung hoher Qualität und Sicherheit erfüllt. Von Gesetzes wegen können nur Leistungen vergütet werden, die wirksam, zweckmäßig und wirksam sind.“
Solidaritätsprinzip
Das schweizerische Krankenversicherungsgesetz KVG (1996) und der Verfassungsartikel 118a Komplementärmedizin (2009) sehen vor, allen Personen Zugang zu komplementärmedizinischen Leistungen zu ermöglichen.20
Vertrauensprinzip
Es gilt das Vertrauensprinzip.21 Das bedeutet, dass keine Positivliste aller Pflichtleistungen erforderlich ist. „Vielmehr wird der Pflichtleistungscharakter von diagnostischen und therapeutischen Leistungen implizit vermutet (Vertrauensprinzip). Die von Ärztinnen und Ärzten vorgenommenen Untersuchungen und Behandlungen werden damit grundsätzlich vergütet.“
Das bedeutet:22 Die Neuregelung der Leistungspflicht „sieht vor, dass künftig für alle ärztlichen Leistungen das Vertrauensprinzip gilt und somit die Kostenübernahme der heute befristet aufgenommenen ärztlichen Leistungen der anthroposophischen Medizin, der Homöopathie, der Phytotherapie und der traditionellen chinesischen Medizin langfristig gewährleistet wird.“
volksinitiative „ja zur Komplementärmedizin“
Der Schweizer Arzt und frühere Präsident der Union komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen Hansueli Albonico fasste am 16. Juni 2017 die Entwicklung in der Schweiz zusammen:23
Der wissenschaftliche und politische Dialog dauerte 20 Jahre. Die direkte Demokratie konnte eine Volksinitiative ins Leben rufen und bei der Abstimmung eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Die Umsetzung der Volksinitiative „Ja zur Komplementärmedizin“ ist gelungen:23
„Mit heutigem Beschluss des Bundesrates wird bestätigt, dass die Wirksamkeit wie auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit genügend operationalisiert worden sind, sodass die Aufnahme in die soziale Grundversicherung weiterhin gewährleistet werden kann.“
Der Gesamtbundesrat hat am 16. Juni 2017 beschlossen, dass Homöopathie, anthroposophische Medizin, traditionelle chinesische Medizin und Phytotherapie definitiv in der Grundversicherung der Schweiz aufgenommen bleiben. Zuvor war die Aufnahme dieser ärztlichen Leistungen in die Grundversicherung bis Ende 2017 befristet.
Der Beschluss ist ausdrücklich unbegrenzt.
Literatur
- Shang 2005
- Dellmour 2008
- KentOnline 2008
- Hanifle, Ehgartner 2005
- Dellmour 2009
- Melchart et al. 2005
- Walach et al. 2005
- Dellmour 2005
- Dellmour 2006
- Heusser 2005
- Rutten, Stolper 2008
- Lüdtke 2008
- Dellmour 2008
- Bornhöft, Matthiessen 2006
- Swiss Association of Homoeopathic Physicians 2005
- Peters 2005
- Frass et al. 2006
- Schlingensiepen, Brysch 2014
- Homeopathy Research Institute 2017
- Dachverband Komplementärmedizin, Union schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen 2017
- Bundesrat 2015
- Schweizer Eidgenossenschaft, Bundesrat 2015
- Albonico 2017
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Startversion: 14.9.2017
Autor: Friedrich Dellmour